«Riace: Stadt des Empfangs und der Humanität» – so lesen wir auf der Ortstafel des Städtchens in Süditalien. Nach der langen Fahrt
nach Kalabrien taucht unsere Delegation in die engen Gassen von Riace ein. In einem Klima der Abschottung, in dem Hilfsorganisationen
daran gehindert werden, Ertrinkende aus dem Meer zu retten, in dem die italienische Regierung Geflüchtete in die libyschen
Folterlager zurückschickt oder sie als Ackersklaven auf den Tomatenplantagen verelenden lässt, da lohnt es sich, diese Geschichte tausend und tausend Mal zu erzählen. Sie ist der lebendige Beweis, dass es möglich ist, in die Mauer der Festung Europa noch Breschen
zu schlagen. Trotz starker Abwanderung ist Riace nicht von der Landkarte verschwunden. Es ist dank seiner Öffnung gegenüber Migrantinnen lebendig geblieben. Als 1998 zum ersten Mal ein Flüchtlingsschiff vor die Küste des Dorfes getrieben wurde, waren die Menschen im Dorf bereit, die Geflüchteten zu empfangen. In Riace weiss man noch, was es heisst, weg zu gehen, seine Wurzeln zu verlieren und ohne Mittel in einem andern Land anzukommen. So entstand die Idee, Häuser, die seit dem Wegzug ihrer Bewohnerinnen leer standen, zu renovieren und jenen zur Verfügung zu stellen, die vor der Küste gestrandet sind. Gleichzeitig kam die Idee auf,
die alten landwirtschaftlichen und handwerklichen Aktivitäten wieder zu beleben, um so als Dorf dem scheinbar unvermeidlichen
Schicksal des Aussterbens zu entgehen. Eine einfache und geniale Formel: Etwas, das überall als Problem bezeichnet wird, ins Positive
drehen! Domenico Lucano, der damals als hoffnungsloser Träumer galt, ist heute zum dritten Mal Bürgermeister. Sein Projekt gilt heute
weltweit als Modell. Heute sind fast die Hälfte der Bewohnerinnen des alten Dorfteils Geflüchtete, unter ihnen zahlreiche Mütter mit ihren Kindern. Einzelne finden hier vorübergehend Aufnahme; andere wollen hier bleiben. Migrantinnen sind hier keine Nummern, welche nach einer abgeschlossenen juristischen Prozedur einfach weitergeschoben werden. Hier werden die Betroffenen auch nach dem Asylentscheid, wenn keine offizielle finanzielle Hilfe mehr geleistet wird, betreut und weiterorientiert. Nach einem erfolglosen oder gescheiterten Start, dürfen sie einfach wieder «nach Hause» kommen und bleiben, bis sie stark genug sind, einen neuen Versuch zu wagen. Hier hat jeder sein Haus. In den steilen engen Gassen des Städtchens hallen Kinderrufe. Die Schulen, Dorfläden und Wirtschaften sind wieder offen, auch dank der Einführung einer alternativen Lokalwährung. Sie wird den Flüchtlingen ausgehändigt und ist nur innerhalb des Dorfes gültig. Die Ladenbesitzerinnen können sie zwei Mal im Jahr bei der Gemeinde 1:1 gegen Euro eintauschen, wenn die Hilfsgelder aus Rom eingetroffen sind. Dies gibt den Migrantinnen die Möglichkeit, ihr Leben selbständig zu gestalten; gleichzeitig werden so die kleinen Läden über Wasser gehalten. Als wir in Riace eintrafen, fanden wir Domenico, einige Migrantinnen und Mitarbeiter auf dem kleinen Dorfplatz. Sie befanden sich bereits am siebten Tag ihres Hungerstreiks. Seit Monaten werden bereits zugesagte Hilfsgelder des Hilfsprogramms für Flüchtlinge in der Höhe von 650‘000 Euro nicht ausbezahlt, Erklärungen für den Zahlungsstopp gibt es keine. Riace wurde ausserdem ab 2018 aus dem
Hilfsprogramm für den Empfang von Flüchtlingen ausgeschlossen. Das Dorf ist wie gelähmt. 165 Menschen, unter ihnen 50 Kinder,
riskieren auf der Strasse zu landen. Die Verpflichtungen, welche die Gemeinde gegenüber den Läden hat, können nicht eingelöst werden.
Der verantwortliche Präfekt wäscht seine Hände in Unschuld und verweist auf «Rom». Die Protestaktion auf dem Dorfplatz wird weitergeführt,
bis eine Lösung in Sicht ist. Domenico Lucano ist erschöpft: durch den Hungerstreik, aber auch durch die Angriffe auf ihn, durch den aufkommenden Rassismus in Italien und das Bewusstsein, dass alles, was in den letzten 20 Jahren an Positivem aufgebaut worden war, mit einem Federstrich weggewischt werden könnte. Sein Manifest, in dem er sich gegen die Behörden wehrt, unterzeichnete er mit «rebellischer Bürgermeister». Er wird nicht aufgeben, er weiss, dass von der aktuellen Regierung und ihrem Innenminister, welcher öffentlich gegen Flüchtlinge hetzt, nicht mehr viel zu erwarten ist. Domenico sucht nach Lösungen, damit dieses Modell desmenschlichen Empfangs, das in seinem Dorf entstanden ist, weiterbestehen kann; notfalls ausserhalb der Subventionsprogramme, welche wahrscheinlich selbst dann, wenn er den Kampf um die letzte geschuldete Rate gewinnt, früher oder später eingestellt werden. Während unseres Aufenthalts in Riace konnten wir feststellen, dass Domenico nicht alleine ist. Auf den Dorfplatz, welchen er als «mein neues Büro» bezeichnet, kommen Besucherinnen von überall: Der «sindaco» von Neapel und die «alcaldessa» von Barcelona kamen vorbei, die Bürgermeister von Genf und Palermo schickten Solidaritätsbriefe. Vertreterinnen von Hilfswerken, Vereinen, Journalisten sind da, um Danke zu sagen. Wir vom Europäischen BürgerInnenforum beteiligen uns seit den Anfängen aktiv an diesem Projekt. Wir werden mit Domenico in Kontakt bleiben und überlegen zusammen mit ihm, welche Lösungen wir finden können. Wir können alle etwas dazu beitragen, dass Riace als Vorbild von Solidarität und Menschlichkeit weiterleben kann.

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